Perspektive

Der Tangermünder Stadtrat tagt. Tagungsordnungspunkt: Bericht zum Stand der Wasserenthärtung. Der Rat aus fast 30 Personen ist in einem großen "U" angeordnet. Leicht erhöht auf einem Podest überblicken der Stadtratsvorsitzende und der Bürgermeister die Szenerie. Im hinteren Teil des Sitzungssaales beobachten Presse, Verwaltung und Bürger die Vorgänge im Rat. Ganz am Rande protokolliert eifrig der Sitzungsdienst das Gesprochene. Mittendrin sitze ich als Freier Stadtrat und lausche den Ausführungen unseres Stadtwerkeleiters zur Wasserenthärtung. Ich kenne diese Informationen als Mitglied des Betriebsausschusses schon und lasse meinen Blick durch den Rat und den Saal schweifen. Etwa sechzig Menschen befinden sich in diesem altehrwürdigen Raum. Jeder nimmt diesen Saal und die Menschen in diesem aus einer anderen Perspektive wahr - im doppelten Wortsinn. Der auf einem Podest erhöhte Bürgermeister hat einen vollkommen anderen Blick als der Sitzungsdienst, die Presse oder die einzelnen Stadträte. Zudem hat jeder einzelne der knapp sechzig Menschen im Raum seine ganz individuelle Sichtweise auf die Welt. Die Ausführungen des Betriebsleiters werden sechzig Mal unterschiedlich interpretiert, sechzig Mal unterschiedlich gefiltert, durch sechzig Perspektiven gesehen.


Nächste Szenerie: Samstagnachmittag Fußballplatz. Heilige Zeit. Perfektes sonniges Wetter. Heimspiel vom FSV Saxonia Tangermünde gegen den TuS Wahrburg. Ich fiebere von der Tribüne aus mit. Ich habe einen guten Blick auf das Spielfeld, befinde mich fast auf Höhe der Mittellinie, vierte Sitzreihe. Dann: Verletzungsunterbrechung. Minuten vergehen. Ich lasse meinen Blick schweifen und beobachte die anderen Fans, Vereinsmitglieder, die Spieler, Schiedsrichter, den Stadionssprecher, Betreuer, Sponsoren und da hinten - weit ab des Fußballplatzes - spielende Kinder. Etwa zweihundert Personen befinden sich aktuell auf dem Stadiongelände. Sie alle haben eine fundamental andere Perspektive auf ein und dasselbe Ereignis: Während für die spielenden Kinder die Partie Tangermünde-Wahrburg allenfalls "irgendwo dahinten weit weg" stattfindet, ist die Perspektive eines Tangermünder Abwehrspielers wiederum fundamental anders als die der Schiedsrichter und die des Gästetrainers. Ein Fußballspiel, zweihundert Perspektiven.

Es ist ein hochinteressanter Zeitvertreib, innerlich die Perspektiven anderer Menschen einzunehmen. Es ist eine so leichte und doch so folgenschwere Wahrheit: Es gibt nicht nur meinen Standpunkt, sondern auch den Standpunkt, die Perspektiven anderer Menschen.

Wir Menschen können auch mit unser eigenen Perspektive auf ein Ding, ein Phänomen spielen: Ich alleine kann eine Sache so oder so sehen. In der Geschichtswissenschaft gibt es das Prinzip der "Mulitperspektivität", die zu jedem Phänomen herangezogen werden kann. Ich nehme eine Flasche Wasser und frage mich:

Unter welchen Umständen ist diese Flasche samt Inhalt PRODUZIERT worden?

Wie beurteile ich die FORMGESTALTUNG der Flasche? Ist sie schön oder hässlich?

Wie ist die CHEMISCHE ZUSAMMENSETZUNG des Plastiks und des Wassers?

Wer macht wie viel PROFIT mit dieser Flasche?

Auf welchen LOGISTISCHEN Wegen kam diese Flasche zu mir?

Wie ist die GESCHICHTE der Wasserspeicherung und -verteilung?
Welche GESUNDHEITLICHEN Aspekte ergeben sich für mich durch den Konsum dieser Flasche Wassers?

Gibt es auf der Welt KRIEGERISCHE Konflikte um Wasser?

...

 

Diese Liste ließe sich noch weiterführen. Das Prinzip der Mulitperspektivität ist für mich eines der wichtigsten Prinzipien meines Denkens und Arbeitens. Auf JEDEN Gegenstand und JEDEN Menschen kann ich multiperspektivisch blicken. Ich sehe mit diesem Blick "mehr" und kann meine Standpunkte beliebig vervielfältigen. Das ist fantastisch.

Ich finde es schade, dass viele Menschen in ihrem Leben "nur" in ihrer Perspektive verharren. Es beschränkt Menschen, wenn sie denken, dass "ihre" Sichtweise die einzig richtige, mögliche Sichtweise im Universum ist. Es beschränkt sie nicht nur, es ist auch peinlich.

 

Gute Freunde, Lehrer, Eltern oder wer auch immer können uns helfen, Perspektiven zu wechseln. Zur Reichhaltigkeit menschlicher Erfahrung gehört meiner Meinung nach die Fähigkeit, viele Perspektiven einnehmen zu können. Das ist auch eine Aufgabe von Schule, von Bildung. Ich bin überzeugt, dass das Training des Perspektivwechsels maßgeblich zu unserer geistigen Frische und Neugier betragen kann. Auch durch Videospiele, Romane oder etwa Kinofilme können wir die Perspektiven anderer Menschen wahrnehmen. Die unmittelbarste Einladung zu einer anderer Perspektive auf das Leben bleibt aber immer die direkte Begegnung von Mensch zu Mensch.

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Kommentare: 1
  • #1

    Alexander Albrecht (Freitag, 22 Juni 2018 17:10)

    Hey Micha
    Liest sicht sehr angenehm und besinnt einen wieder zurück auf die oft vergessenen und zu kurz kommenden Dinge. - nämlich, das wir nicht allein sind !

    Gruss Alex ;-)